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Um 21.33 Uhr plötzlich Luftalarm

Ein Bericht über unseren Stammtisch von Paul Gäbler

Gehen ein Brandenburger, ein Franke, ein Este und eine Ukrainerin in eine Bar … Was beginnt wie ein Witz, wird jeden Mittwoch um 18.30 Uhr Realität. Ein Stammtisch eben, eine Gruppe von Menschen, die sich regelmäßig trifft, um bei ein, zwei, drei Bieren die Lage des Landes zu besprechen. Nicht in Berlin, noch nicht einmal in Deutschland, sondern im südukrainischen Odessa, eben jener Stadt, die in den vergangenen Wochen wiederholt in den Schlagzeilen war, weil russische Marschflugkörper in der Altstadt einschlugen.

Die meisten leben hier bereits seit vielen Jahren, haben ein Business, eine Familie oder beides gegründet und sich eine Waschmaschine angeschafft – dann ist ein spontaner Umzug in die Heimat schwierig. Was alle eint, ist ein gewisser Außenseiterstatus im eigenen Land und eine leichte Skepsis gegenüber dem heute anwesenden Reporter. Deshalb möchte auch fast niemand mit echtem Namen erwähnt werden, auch Fotos sind unerwünscht. Es ist schließlich eine lockere Runde unter Freunden.

18.53 Uhr. Karina Beigelzimer kommt ein wenig zu spät. „Das tut sie immer“, sagt jemand. Karina ist Lehrerin, spricht hervorragend Deutsch und arbeitet dazu als freie Journalistin. Wie lange es diesen Stammtisch schon gibt? „Bestimmt schon seit über 20 Jahren“, sagt sie. Karina kommt selber aus Odessa und geht schon seit vielen Jahren hier hin.

Wer genau den Stammtisch damals gegründet hat, kann keiner sagen. Willkommen ist hier jeder, der sich in irgendeiner Form für die Bundesrepublik interessiert, sei es aufgrund seiner eigenen Herkunft oder einer speziellen Begeisterung für Deutschland. Deutsch zu sprechen ist dazu ebenfalls von Vorteil, fast alle am Tisch sprechen aber auch Russisch oder Ukrainisch.

20.04 Uhr. Der Alkohol hat sich bereits in die Blutbahn vorgearbeitet, die Runde ist auf fast 20 Menschen angewachsen. „So viele waren wir aber lange nicht mehr“, sagt Kai aus Spremberg in schönstem Brandenburger Singsang.

Martin, ein Franke, der sich hier vor vielen Jahren als Informatiker niedergelassen hat, prostet ihm zu. In Deutschland mag die Wiedervereinigung noch stocken, hier in Odessa ist sie längst vollzogen. Da stören auch die sich teils stark widersprechenden politischen Ansichten am Tisch nicht. Wer so wenig Auswahlmöglichkeit hat, der freundet sich eben mit den aneinander reibenden Meinungen an. Alkohol und der gemeinsame Gegner Russland sind dabei sicherlich von Vorteil.

„Ich hab das auch nicht kommen sehen mit der russischen Invasion“, gibt Martin zu. Noch wenige Tage vor dem Angriff habe er es nicht glauben wollen oder können, dass Putins Truppen den Einmarsch vorbereiteten. „Putin hätte ja damals mit einem Truppenabzug die gesamte westliche Medienlandschaft bloßstellen können“, sagt er. „Stattdessen hat er diejenigen gegen sich aufgebracht, die hier tendenziell mit Russland sympathisierten.“ Die Ukraine war noch nie so geeint wie aktuell. Ein linksradikaler Hesse augenzwinkernd quer über den Tisch: „Du alter Putinversteher.“

Im März 2022, als die ersten Bomben auch auf Odessa fielen, habe er sich mit Frau und Kind in Sicherheit gebracht, zurück nach Franken zu seinen Eltern – um nach wenigen Wochen wieder zurückzukehren, der Stadt wegen, wie er erzählt. „Odessa hat einfach einen ganz besonderen Charme. Mir gefällt es hier besser als in Deutschland.“

21.33 Uhr. Sirenengeheul weht durch die Straßen. Die Warnapp „AirAlarm“ leuchtet auf sämtlichen Smartphones der Anwesenden auf und kündigt möglichen russischen Beschuss an, verbunden mit der Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen. „Alarrm! Alarrrrrm!“, macht einer in der Runde laut und lässt dabei das „R“ besonders stark rollen – ein Zitat aus einem deutschen Meme, das hier jeder am Tisch kennt. Gelächter und Heiterkeit, trotz der drohenden Gefahr aus der Luft. Schnell zückt Karina ihr Smartphone und scrollt für die Details durch einige Telegram-Gruppen. Sie liest vor: „Luftalarm für die gesamte Ukraine: mehrere MiG-31K Bomber auf dem Territorium Russlands gestartet.“

„Ah, das heißt gar nix“, sagt Martin und macht eine abwehrende Handbewegung. „Wenn’s Luftalarm für’s ganze Land gibt, ist Odessa eigentlich nie dran. Und diese Kinschal-Raketen, die diese Flugzeuge tragen, sind sowieso viel zu langsam.“

Die Kinschal, russisch für Dolch, wurde lange von der russischen Propaganda als neue Wunderwaffe angepriesen. Die Hyperschall-Rakete galt vor dem Krieg als sicherer Treffer, erreicht nach russischen Angaben in kürzester Zeit Mach 10 (mehr als 12.000 Stundenkilometer) und bleibe trotzdem manövrierfähig.

Doch spätestens seit Mai dieses Jahres dürfte klar sein, dass die von Putin als „praktisch unbesiegbar“ bezeichnete Rakete ein Reinfall ist. Ukrainischen Angaben zufolge erreiche die Kinschal gerade mal 3,6 Mach und konnte mit einem Patriot-System nahe Kiew abgeschossen werden. Für Russlands Propaganda eine enorme Schmach, die kürzlich auch zu der Verhaftung von mehreren an der Entwicklung beteiligten Ingenieuren führte.

„Zum Glück“, sagt einer der Anwesenden lachend, „geht es in Russland noch korrupter zu als hier.“ Grund zur Panik gäbe es eigentlich nur, wenn Oniks-Raketen im Anflug wären. Diese sind zwar bedeutend langsamer, aber aufgrund ihrer Flughöhe von nur wenigen Metern über der Oberfläche schwieriger im Radar auszumachen.

Die Informationen aus den Telegram-Gruppen kommen teilweise direkt vom ukrainischen Verteidigungsministerium. Doch die ständigen Alarme haben einen ungünstigen Nebeneffekt: Da gefühlt in 99 Prozent der Fälle nichts passiert, beginnt man, sie nicht mehr ernst zu nehmen. „Eigentlich müsste man eine Art Voralarm und einen richtigen Alarm etablieren“, findet Martin. So bleibe es individuell, ob man die Warnungen in den Telegram-Gruppen auch entschlüsseln kann. „Wenn Oniks anfliegen, weiß ich sofort: Jetzt hast du noch fünf Minuten Zeit, in den Keller zu gehen.“22.25 Uhr. Die Runde beginnt sich allmählich auszudünnen, nur die Trinkfesten bleiben noch eine Weile hier. Karina Beigelzimer, die Deutschlehrerin, mag ohnehin keinen Alkohol, stürzt den letzten drogenfreien Martini herunter und verabschiedet sich in die Nacht.

Am Ende sitzt der harte Kern beisammen: ein Linksradikaler, ein Konservativer und ein Royalist, sie nutzen die Gelegenheit für eine ausführliche Genderdebatte. Man hat ja nicht alle Tage einen deutschen Reporter zu Gast, also jemanden aus dem Schmerztiegel Wokeistans. Die politischen Barrieren sind, auch aufgrund des gestiegenen Alkoholpegels, vergessen. Stattdessen sind sich nun drei Viertel in der Runde einig, dass das generisches Maskulinum eine prima Sache sei und sich die politischen Debatten in Deutschland in den vergangenen Jahren im Kreis drehen.

23.06 Uhr. Jetzt wird es doch noch einmal hitzig: Es geht um den Einsatz von Streumunition und um die Frage, ob man nicht auch Napalm einsetzen sollte. „Alles ist erlaubt, solange es russische Soldaten vom Staatsgebiet der Ukraine vertreibt!“, so der Tenor. Eine Position, mit der kürzlich auch der Autor und Journalist Artur Weigandt auf Twitter einen Sturm der Entrüstung auslöste. Hier sind solche Positionen jedoch weit verbreitet.

Die Menschen hier erfahren am eigenen Leib, wie grausam der russische Imperialismus vorgeht, mit dem man sich bis heute eine gemeinsame Sprache teilt. Nahezu jeder, der heute hier am Tisch saß, hat inzwischen einen Verwandten oder Bekannten verloren. Bereits jetzt sieht man in den Straßen von Odessa häufig Menschen mit schweren Verstümmelungen – von den seelischen Wunden ganz zu schweigen. Der Krieg ist auch bei den Deutschen in der Stadt angekommen. 

„Die große europäische Lüge war immer, dass es eine funktionierende Friedensordnung mit Russland gegeben habe“, sagt der Este. „Frag mal die Leute im Kaukasus. Oder die Tschetschenen. Oder die in Georgien. Oder die Leute in Transnistrien. Ich weiß, für euch war das bequem, mit dem russischen Gas und Schröder und so. Aber das war alles eine große Lüge.“

23.39 Uhr. Kurz vor Einbruch der Sperrstunde löst sich die Runde auf. Man bezahlt bei Larissa, der Barkeeperin, die ebenfalls einen Teil ihres Lebens in Düsseldorf verbracht hat, und steigt ins nächste Taxi.