Kürzlich hatten wir am Stammtisch weit gereisten Besuch, der fröhlich durch die Parks der Stadt schlendernd in etwa meinte, hier sei doch gar kein Krieg. Und ja, wenn man sich die unversehrten Seiten der Altstadt heraussucht und gerade Glück hat, in den paar Tagen des Besuchs keinen Beschuss selbst zu erleben, kann man schon zu diesem Urteil kommen.
Im Gegensatz dazu halten viele Freunde und Verwandte in Deutschland einen Besuch in Odessa für so gefährlich, dass sogar früher regelmäßige Familienbesuche bis auf unbestimmte Zeit verschoben sind und man als Odessit, der die Stadt trotz des Krieges nicht verlassen möchte, für latent lebensmüde gehalten wird.
Um diese beiden extremen Positionen etwas zu Erden, hier dieser Text.
Raketenbeschuss
Odessa wurde im Laufe der letzten zwei Jahre sehr unterschiedlich stark beschossen. Z.B. als das Getreideabkommen abgelaufen war, war fast jede Nacht massiver Luftalarm, teils auch mehrfach. Russland versuchte mit allen Mitteln, Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Drohnen, den Hafenbetrieb zu stören. Dutzende Drohnen flogen oft auch unmittelbar über das Stadtzentrum und wer freien Blick übers Meer hatte, konnte teils ein Leuchtspektakel am Himmel erleben, wie man das ansonsten nur aus alten Starwars-Filmen kannte.
Über mehrere Wochen hinweg flogen fast täglich Raketen und Drohenschwärme über die Stadt und schlugen teils auch direkt im Zentrum ein. Der Hafen ist vom Zentrum nicht mal einen Kilometer entfernt. Zu dieser Zeit waren die Luftschutzkeller der Stadt zurecht gut besucht.
Um von den abgefeuerten Raketen möglichst viele ins Ziel zu bringen, versucht Russland gezielt, die Luftabwehr zu überlasten. Das heißt, Raketen und Drohen werden meist nicht einzeln gestartet, sondern in größeren Salven, gefolgt von längeren Ruhepausen. Diese wellenartigen Angriffe sind also aus taktischen Gründen bewusst so gewählt.
Gerade wenn man sich also nach einer Woche schon fast wieder an die Ruhe gewöhnt hat, wird man dann so wie heute durch mehrere massive Explosionen daran erinnert, dass man sich doch in einem Kriegsgebiet befindet. Der subjektive Eindruck der Bedrohungslage kann damit sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem welche Woche man bei seinem Besuch erwischt.
Alarmstufen
Alarm ist nicht gleich Alarm. Alarm kann sehr unterschiedliche konkrete Bedrohungsstufen für einen persönlich bedeuten. Sobald man die Sirene des Luftalarms hört, kann man mit einem schnellen Blick online mehr über den genauen Grund des Alarms herausfinden. Häufig finden sich die folgenden Ursachen:
- MiG-31
- Überwachungsdrohnen
- Kamikazedrohnen
- Möglicher Raketenabschuss
- Raketenabschuss
Sobald eine MiG-31, die spezielle sehr schnelle Raketen transportieren kann, in der Luft ist, wird z.B. für die gesamte Ukraine Luftalarm ausgelöst. Es heißt nicht, dass ein konkreter Abschuss erfolgte. Russland hat schnell gemerkt, dass sie damit durch reine Flugaktivität Chaos verursachen können. Seitdem fliegen sie praktisch täglich mit ihren MiGs spazieren. Der Alarm wird zwar noch ausgelöst, aber eigentlich nicht mehr beachtet. Aufgrund seiner Häufigkeit ist er wohl die lästigste aller Alarmvarianten.
Überwachungsdrohnen sind häufig das Vorspiel für folgenden Beschuss durch ballistische Raketen. Die Drohnen selbst stellen keine Gefahr dar, aber es lohnt sich, die Nachrichten im Auge zu behalten und ggf. einen Unterschlupf in der Nähe zu haben.
Kamikazedrohnen wie die aus dem Iran gelieferten Shaheed werden meist nachts in größeren Rudeln abgeschickt. Da sie sehr langsam fliegen, hat man ausreichende Vorwarnzeit, um sich ggf. in einen Luftschutzkeller zu begeben. Mittlerweile ist die Luftabwehr aber sehr geschickt darin, diese abzufangen. Auch ist ihre Sprengkraft deutlich kleiner als die von Marschflugkörpern. Sie sind daher nicht mehr allzu sehr gefürchtet.
Die Hauptgefahr für Odessa sind vor allem tief fliegende Marschflugkörper und ballistische Raketen. Ein solcher Einschlag sprengt ein 10-20 Meter großes Loch in die Straße oder reißt einen halben Häuserblock weg. Oder er deckt ein Gebiet großflächig mit tödlicher Streumunition ab. Die Vorwarnzeit zwischen Alarm und Explosion ist dabei sehr kurz. Manchmal kommt der Alarm sogar erst nach dem Einschlag.
Das führt einerseits dazu, dass die Ukraine oft schon als Vorwarnung einen Raketenalarm auslöst aufgrund verdächtiger Aktivitäten auf der Krim. Oder weil die russische Flugabwehr ukrainische Drohnen über der Krim versucht abzuschießen und man diese Abschüsse nicht sofort richtig einordnen kann. Etliche dieser Alarme stellen also keine echte Bedrohung dar. Andererseits ist es im Falle einer echten Bedrohung, also einer Rakete die in die eigene Richtung fliegt, zeitlich fast nicht möglich noch irgendwo einen Luftschutzkeller zu erreichen.
Umgang mit dem Alarm
Unser weit gereister Besuch hatte sich sehr darüber gewundert, dass die Menschen aus seiner Sicht überhaupt nicht auf die teils mehrmals täglichen Alarme reagieren. Dies ist nur zum Teil richtig. Die meisten prüfen schlicht online den Grund des Alarms und kommen dann zu dem Ergebnis, dass die Bedrohung nicht konkret genug ist.
Andererseits besteht aber auch bei sehr akuter Bedrohung durch Raketen kaum die Möglichkeit noch viel zu tun. Im Freien sollte man bestenfalls noch versuchen, den nächsten Hauseingang oder Torbogen anzusteuern. In Innenräumen, wenn möglich die zwei-Wände-Regel beherzigen, also möglichst weg von den Fenstern. Und dann bleibt nur zu hoffen, dass die Rakete abgeschossen wird, von selbst vom Himmel fällt (nordkoreanische Wertarbeit) oder irgendwo anders einschlägt.
Bis vor Kurzem hatten einige Restaurants, besonders Restaurantketten mit maximal dümmlichem Management, auch noch die völlig idiotische Anweisung, die Kunden bei Luftalarm auf die Straße zu schicken. Ganz so als ob sie auf freier Fläche sicherer wären als im Gebäude …
Und natürlich hat sich auch nach zwei Jahren Krieg bei vielen ein spürbarer Fatalismus breit gemacht. Ähnlich wie im 30-jährigen Krieg mit dem Motto „carpe diem“ gehen viele einfach ihrem Tagwerk nach und ignorieren lieber die latente Gefahr von Raketen, anstatt den halben Tag aus Angst im Keller zu verbringen.
Nüchterne Abwägung
Natürlich muss es jeder mit sich selbst ausmachen, welches Risiko er eingehen möchte und welches nicht. Klar ist aber auch, es gibt trotz Krieg in Odessa weit gefährlichere Gegenden auf der Welt in denen Raub und Mord an der Tagesordnung sind, und auch dort lassen sich Besucher nicht abschrecken. Es ist ein kalkulierbares Risiko.
Zuletzt noch eine Liste von Telegram-Kanälen, die immer sehr zeitnah über die Alarmsituation berichten. Beim Verständnis hilft bei Bedarf die in Telegram eingebaute Übersetzungsfunktion.